Die hessische Metropole Frankfurt am Main steht für drei Tage im Mittelpunkt der Audiologie und Hörakustik. Über 250 Teilnehmer aus mehr als über 25 Ländern treffen sich um die Beziehung zwischen gutem Hören und dem allgemeinen Wohlbefinden aus wissenschaftlicher Sicht zu betrachten.
Die Moderatoren Herr Dr. Markus Meis vom Hörzentrum in Oldenburg und Frau Prof. Dr. Sophia Kramer von der Universität Amsterdam führen durch ein zweitägiges Programm mit renommierten Referenten aus der ganzen Welt.
Session I: Wohlbefinden, Emotionen und soziale Aspekte
Im ersten Vortrag der ersten Session berichtet Frau Prof. Dr. Barbara Weinstein vom Langone Medical Center in New York City über die Steigerung des emotionalen Wohlbefinden bei Erwachsenen durch eine Hörgeräteversorgung. Die Prävalenz des altersbedingten Hörverlusts nimmt zu und die damit einhergehenden sozialen, gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen stellen eine Herausforderung für die öffentliche Gesundheit dar. Zu den am meisten verbreiteten Korrelaten gehören Einsamkeit und soziale Isolation, welche sich auf die körperliche und seelische Gesundheit auswirken und häufig mit zunehmendem Alter ansteigen. Neuere Studien deuten darauf hin, dass soziale Verbindungen möglicherweise das biologische Bedürfnis nach Überleben erfüllen. Ob in den USA, in Deutschland oder in Großbritannien: Überall verkünden Pressemeldungen, dass sich Einsamkeit epidemisch ausbreitet. Eine Erklärung dafür, dass soziale Isolation ein großes Problem für die öffentliche Gesundheit darstellt, ist, dass soziale Bindungen als Puffer gegen Stress fungieren und das Immunsystem stärken. Schwierigkeiten, den Hörverlust in sozialen Situationen selbst zu managen, beeinträchtigen die sozialen Beziehungen, und der damit verbundene Stress steigert das Risiko für soziale/emotionale Einsamkeit und soziale Isolation. Diese multidimensionalen Konstrukte sind ausgeprägte Erfahrungen, die durch fehlende soziale Bindungen gekennzeichnet und jeweils mit Langfristigkeit und einem Risiko für frühzeitiges Sterben verbunden sind. Aus diesen Gründen ist es unerlässlich, dass modifizierbare soziale, sensorische und lebensstilbezogene Risikofaktoren durch medizinisches Fachpersonal identifiziert und behandelt werden. Die Identifizierung der Faktoren, die dazu beitragen, dass sich jemand einsam oder isoliert fühlt, ist der erste Schritt zur Bestimmung der geeigneten Behandlung. Da Hörverlust zu den modifizierbaren Faktoren gehört, stehen aus dieser Sicht verschiedene Behandlungsoptionen zur Verfügung, um Einsamkeit und sozialer Isolation entgegenzuwirken, z. B. Hörgeräteversorgung, Cochlea-Implantate, unterstützende Hörtechnologien kombiniert mit Hörrehabilitation in der Gruppe. Wir werden mehrere Ansätze zur Messung der unterschiedlichen Aspekte sozialer Beziehungen sowie Beispiele nachweislich erfolgreicher Hörversorgung vorstellen. Zudem werden wir näher auf die Tatsache eingehen, dass mit Hörverlust / Kommunikationsdefiziten verbundener Stress dem Gehirn NICHT gut tut, und versuchen, den Nutzen der Hörversorgung neu zu bewerten.
Der zweite Vortrag wird von Dr. Gurjit Singh von der Universität Toronto gehalten. Er berichtet über die Hörrehabilitation mit dem Fokus auf soziale Beziehungen und Emotionen. Weltweit haben mehr als 800 Millionen Menschen einen Hörverlust. Wird dieser nicht behandelt, kann das die Lebensqualität und das Wohlbefinden stark mindern. Vor diesem Hintergrund wird zunehmend erkannt, dass Lebensqualität und Wohlbefinden nicht nur von der körperlichen Gesundheit, sondern auch von nicht-körperlichen Faktoren, wie den kognitiven Fähigkeiten oder dem sozialen und emotionalen Setting einer Person abhängen. In der Präsentation werden wir eine kurze Einführung und Übersicht über den aktuellen Stand der Forschung zum Thema Hörrehabilitation im Zusammenhang mit sozialen Beziehungen und Emotionen geben. Dies werden wir auf zwei Arten durchführen: Erstens, werden wir uns verschiedene Messungen sozialen und emotionalen Wohlbefindens unter dem Blickwinkel der Folgen von Hörverlust auf das soziale und emotionale Wohlbefinden einerseits und des Nutzens von Hörgeräten andererseits anschauen. Zweitens, werden einige Studien präsentiert, die den Einfluss des sozialen und emotionalen Settings auf den Erfolg der Hörrehabilitation untersucht haben. Abschließend werden wir auf mögliche Implikationen für die klinische Praxis eingehen.
Nach einer kurzen Kaffeepause trat Dr. Markus Meis vom Hörzentrum in Oldenburg vor das Auditorium. In seinem Vortrag berichtet er über den Einfluss von Hörverlusten und Hörgeräten auf das Kommunikationsverhalten. Hörverlust wird mit verminderter Sprachverständlichkeit und Einschränkungen in der Lebensqualität assoziiert, wie z.B. soziale Isolation und eingeschränkte Teilhabe. Trotzdem ist noch wenig darüber bekannt, in welchem Maße ein Hörverlust bzw. eine Hörgeräteversorgung das Verhalten in ‚akuten‘ Kommunikationssituationen bestimmt und welche Zusammenhänge es zwischen den Verhaltensmustern gibt. Gemäß den Erkenntnissen einer Pilotstudie, in welcher die Grundlagen zur Erfassung des Kommunikationsverhaltens definiert wurden, wurden Gruppengespräche im Störgeräusch durchgeführt, an welchen zehn Testpersonen mit jeweils drei unterschiedlichen Hörgeräte-Marken teilnahmen. Das vorgeschlagene Schema zur Offline-Erfassung zeigte, dass verschiedene Hörgeräte zu Änderungen in den Verhaltensmustern führten. Diese Verhaltensänderungen kongruierten mit den SRT-Ergebnissen und den subjektiven Bewertungen. Einige der Ergebnisse wurden als soziale Beeinträchtigung und verminderte Aktivität gemäß der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) ausgelegt. Neben der Offline-Erfassung wurde iterativ ein Verfahren zur sofortigen Kodierung von acht Verhaltensmustern entwickelt und zur schnellen Überprüfung von Laborstudien mit guten bis ausgezeichneten Interrater-Reliabilitätswerten eingesetzt. Die ersten Ergebnisse zu diesen neuen Tools werden vorgestellt und diskutiert.
Im letzten Vortrag vor der Mittagspause berichtet Frau Prof. Louise Hickson von der Universität in Queensland über die Schlüsselfunktion der Familie zum Thema “Gutes Hören und Wohlbefinden”. In ihrem Vortrag geht es um die Bedeutung der Familie im Leben von Erwachsenen mit Hörverlust. Als Familie wird jede Person definiert, die aufgrund einer biologischen, rechtlichen oder emotionalen Beziehung eine signifikante Rolle im Leben des Kunden spielt. Es hat sich gezeigt, dass die Mitwirkung der Familie an der gesundheitlichen Versorgung jeglicher Art mit positiven Ergebnissen assoziiert wird, z. B. höhere Zufriedenheit des Kunden mit der Versorgung und bessere Behandlungsadhärenz. Zudem ist vielfach belegt, dass die soziale Unterstützung besonders für die allgemeine körperliche und geistige Gesundheit von älteren Erwachsenen wichtig ist. In der Audiologie ist die Einbindung der Familie und die soziale und emotionale Unterstützung, die sie leisten kann, besonders wichtig. Das liegt vor allem daran, dass der Kunde die Kommunikationsschwierigkeiten, die mit dem Hörverlust einhergehen, nicht allein, sondern mit der Familie erlebt. Wir werden einige Ergebnisse aus einem Forschungsprogramm präsentieren, das die Implementierung familienzentrierter Hörversorgung untersuchte. Es wird argumentiert, dass besonders Audiologen die Möglichkeit haben, familienorientierte Versorgung anzubieten und dadurch das „Wohlbefinden“ hörgeschädigter Personen und ihrer Familien zu verbessern.
Gut gestärkt ging es in den letzten Vortrag der ersten Session. Vor das Auditorium tritt Prof. Hartmut Meister vom Jean Uhrmacher Institut der Universität Köln. Im Alltag kommen häufig Hörsituationen mit mehreren Sprechern vor. In solchen Situationen, die mit dem Oberbegriff „Cocktailparty-Effekt“ umschrieben werden, werden hohe Anforderungen an das auditorische System und andere Mechanismen, wie z. B. verschiedene kognitive Bereiche wie Aufmerksamkeitsfähigkeit und Arbeitsgedächtnis, gestellt. Leider nehmen in der Regel mit zunehmendem Alter die auditorischen und einige kognitiven Fähigkeiten ab, sodass sich das Cocktailparty-Problem potenziell vor allem für ältere Zuhörer stellt. Dieser Vortrag bietet einen Überblick über die Mechanismen, die mit dem Hören und Sprachverstehen unter ungünstigen akustischen Bedingungen, wie z. B. Stimmengewirr, assoziiert werden. Genauer wird es um den Einfluss der auditorischen und kognitiven Faktoren und die Rolle verschiedener Aufmerksamkeitstypen gehen. Des Weiteren werden wir über die möglichen Folgen für die Diagnose und die Rehabilitation von Hörverlust sprechen.
Session II: Kognitive Wahrnehmung, Höranstrengung und mentale Beanspruchung
Im ersten Vortrag der zweiten Session zur kognitiven Wahrnehmung, Höranstrengung und mentalen Beanspruchung tritt Prof. Dr. Josef Kessler, Leiter der Neuropsychologischen Abteilung des Neurologischen Universitätsklinikums Köln vor das Auditorium. Die Folgen des Hörverlustes bzw. eine substanzielle Reduzierung des Hörvermögens – besonders gehäuft im Alter – lassen sich auf verschiedenen Ebenen beschreiben, die sich zwar getrennt betrachten lassen, aber im hohen, wenn nicht immer verstandenen Maße interagieren. Hörverlust kann zur sozialen Isolation, Depression und Vereinsamung führen. Aber auch zu einer Einschränkung der verbalen Kommunikation, und hier besonders relevant zu kognitiven Defiziten. Besonders prominent sind episodische und semantische Gedächtnisstörungen, Störungen der Exekutivfunktionen, die in fast alle Lebensbereiche hinein wirken sowie eine psychomotorische Verlangsamung. Das Nachlassen der Hörfähigkeit wird versucht durch eine erhöhte Gehirnaktivität zu kompensieren und bindet demnach anderweitige Ressourcen die zu einer Herabsetzung der kognitiven Reserven führt. Direkt und indirekt erhöht der Hörverlust das Demenzrisiko, das sich durch das frühe Erkennen und konsequentes Handeln – analog zur Sehfähigkeit – mit Hilfsmitteln beheben lässt und viele der genannten Defizite reversibel macht.
Im nachfolgenden Vortrag tritt Frau Prof. Erin Picou vom Medizinischen Center der Vanderbilt Universität aus in Nashville, Tennessee. Ihr Vortrag betrachtet was genau Höranstrengung ist und wie diese genau gemessen wird. Höranstrengung ist die mentale Leistung, die erforderlich ist, um eine auditive Botschaft zu hören und zu verstehen. Das Thema Höranstrengung rückt immer mehr in den Fokus der Wissenschaft, da nachhaltig zunehmende Höranstrengung zu mentaler Ermüdung und kommunikativem Rückzug führen kann. Kliniker und Forscher sind daher gleichermaßen an Lösungen zur Verringerung der Höranstrengung interessiert. Höranstrengung lässt sich jedoch nicht leicht messen, weil mentale Anstrengung nicht beobachtbar ist. Aus diesem Grund sind verschiedene Methoden entwickelt und angewandt worden. In Bezug auf die Messung der Anstrengung hat jede dieser Methoden Stärken und Schwächen, zur Höranstrengung liefern sie hingegen alle gleichermaßen gute Ergebnisse. In dieser Präsentation werden fünf allgemeine Methoden zur Evaluation der Höranstrengung vorgestellt. Unter anderem werden wir genauer auf die Themen Subjektiver Report, Physiologische Messungen, Elektroenzephalographie, Recall-Messung und auf Antwortzeit basierende Paradigmen eingehen. Des Weiteren werden die grundlegenden Prinzipien der einzelnen Methoden erklärt und ihre Anwendung anhand einer Beispielstudie beschrieben. Abschließend werden die Methoden allgemein bewertet.
Im Vortrag von Frau Melanie Krüger M.Sc. von Hörzentrum Oldenburg berichtet über die Implementierung der ACALES Methode zur Messung der Höranstrengung. In vielen Hörsituationen des Alltags wird Sprache von Hintergrundgeräuschen überdeckt und dadurch unverständlich. Hintergrundgeräusche beeinträchtigen aber nicht nur die Sprachverständlichkeit, sondern auch die subjektiv empfundene Höranstrengung. Die adaptive Skalierungsmethode zur Kategorisierung der Höranstrengung „ACALES“ (Krüger et al., 2017) ist ein leicht anwendbares Verfahren zur Messung der subjektiven Höranstrengung. Drei Sets des Oldenburger Satztests (OLSA, Wagener et al., 1999) werden als Testmaterial präsentiert und die Aufgabe der Testperson besteht darin zu bewerten, wie anstrengend es war, dem Sprecher zu folgen. Basierend auf der vorherigen Bewertung der Höranstrengung wird der Sprachpegel verändert, wodurch für jede Testperson ein individueller Signal-Rausch-Abstand für die Bewertungskategorien „mühelos“ bis „extrem anstrengend“ ermittelt werden kann. Die Methode eignet sich, um Unterschiede in der wahrgenommenen Höranstrengung bei Personen mit und ohne Hörgerät oder zwischen verschiedenen Hörgeräten zu demonstrieren. Hörakustiker können mit dieser Methode zudem individuellere Anpassungen durchführen. In der klinischen Praxis kann ACALES auch eingesetzt werden, um den Rehabilitationsprozess nach der CI-Operation zu dokumentieren – durch Messung der subjektiven Höranstrengung vor und nach der Implantation. Die Ergebnisse zeigen, dass die Teilnehmer sehr unterschiedliche individuelle Präferenzen im Rehabilitationsprozess aufwiesen. Zudem zeigten fachübergreifende Studien Unterschiede zwischen unilateraler und bilateraler/bimodaler Versorgung auf. Abschließend werden wir über mögliche Implikationen für die audiologische Praxis sowie über Korrelationen mit anderen Messungen der Höranstrengung sprechen.
Der zweite Tag beginnt mit zwei weiteren Vorträgen zum Thema der zweiten Session Kognitive Wahrnehmung, Höranstrengung und mentale Beanspruchung. Als erster betritt Graham Naylor, Leiter der Abteilung Hearing Sciences der Scottish Section der Universität Nottingham. Wir alle fühlen uns von Zeit zu Zeit müde und antriebslos – das ist normal und deutet nicht unbedingt auf gesundheitliche Probleme hin. Wer jedoch sehr häufig oder ungewöhnlich schwer ermüdet, kann zu Recht behaupten, in seiner Lebensqualität eingeschränkt zu sein. Aktuell gibt es nur wenige Studien, die sich mit der Frage befassen, ob hörbedingte Ermüdung durch Hörgeräte reduziert werden kann. Eine solche Studie müsste Änderungen bezüglich des Aktivitätsumfangs berücksichtigen, die sich z. B. ergeben, wenn jemand anfängt, ein Hörgerät zu nutzen. Es bleibt weiterhin ratsam, zu beachten, dass Müdigkeit auf eine Hörminderung hindeuten und eine Verringerung der Müdigkeit positive Auswirkungen auf die Hörversorgung haben kann.
Der letzte Vortrag der Session II wird von Jean-Pierre Gagné, Ph.D. von der Universität Montreal gehalten, der sich mit der Stigmatisierung im Zusammenhang mit Hörverlust und Alterserscheinungen: Ein Hindernis für die audiologische Rehabilitation beschäftigt. Mit dem altersbedingten Hörverlust ist ein soziales Stigma verbunden. In vielen Gesellschaften gelten Erwachsene mit Hörverlust als alt, behindert und geistig beeinträchtigt; sie werden nicht als interessante Gesprächspartner, sondern eher als Last wahrgenommen. Einige Senioren mit Hörverlust weisen eine Selbststigmatisierung in Bezug auf den Hörverlust auf. Dieses Phänomen lässt sich beobachten, wenn ältere Menschen mit Hörverlust selbst die allgemein verbreiteten stereotypen Vorbehalte gegen Hörverlust aufweisen. Selbststigmatisierung kann u. a. die eigene soziale Identität gefährden und die Selbstwirksamkeit und das Selbstvertrauen mindern. Personen, die sich selbst stigmatisieren, schämen sich in der Regel für ihr stigmatisierendes Merkmal. Selbststigmatisierung erklärt, zumindest teilweise, warum ältere Erwachsene ihre Hörprobleme leugnen oder verharmlosen. Ebenso kann Selbststigmatisierung einer der Gründe dafür sein, dass Senioren mit Hörminderung keinen Hörakustiker aufsuchen und damit nicht adäquat behandelt werden können. Abschließend wird ein Behandlungsprogramm vorgestellt, das entwickelt wurde, um Selbststigmatisierung entgegenzuwirken, die mit Hörverlust und/oder Altersdiskriminierung verbunden ist.
Session III: eHealth und Rehabilitation