Ein Hörverlust zählt aktuell in der alternden Gesellschaft zu den häufigsten Beeinträchtigungen. Laut WHO leidet in den Industrieländern etwa ein Viertel der Bevölkerung an unterschiedlich stark ausgeprägten Hörbeeinträchtigungen. Das neu im Thieme Verlag erschienene Fachbuch „Innenohrschwerhörigkeit“ widmet sich unter anderem der differenzierenden Audiometrie, den Ursachen akuter Formen, der Altersschwerhörigkeit und verschiedenen Auslösern einer Innenohrschwerhörigkeit.
Anatomische Grundlagen
Um pathophysiologische Vorgänge bei der Entstehung einer Innenohrschwerhörigkeit zu verstehen, bedarf es neben anatomischen Kenntnissen auch das Wissen zur Umwandlung der Schallwelle in eine elektrische Erregung. Autor Prof. Dr. med. Gerhard Hesse – Chefarzt der deutschen Tinnitus-Klinik in Bad Arolsen – erklärt in der Einführung seines Werkes unter anderem die Funktionen der äußeren und inneren Haarzellen, die Wanderwelle, die Tonotopie, das Recruitment und letztendlich die Schallübertragung der inneren Haarzellen über den Hörnerv zum Gehirn.
Freiburger Sprachtest bleibt Goldstandard
Der wichtigste Teil bei der Vermessung einer Innenohrschwerhörigkeit ist nach Anamneseerhebung und Otoskopie die audiometrische Datenerhebung, so Prof. Hesse. Laut dem Autor bleiben neuere Verfahren gegenüber dem Freiburger Sprachtest den Beweis einer verbesserten Sprachaudiometrie schuldig. Alleine ein „moderneres“ Verfahren rechtfertige noch nicht eine Umstellung in der Audiometrie. Dies gilt umso mehr, da keine entscheidenden Vorteile für die aufwändigeren und von mancher Stelle neu einzuführenden Verfahren vorhanden wären. Damit bleibt selbst bei der Begutachtung der Freiburger Sprachtest immer noch Goldstandard – so der Autor.
Neben der Audiometrie sind bildgebende Verfahren bei der Beurteilung des Innenohres hilfreich. Besonders bei einseitigen Befunden mit vestibulärer Beteiligung rät der Autor zur Anwendung solcher Verfahren, die im Buch einzeln beschrieben werden.
Ursachen einer Innenohrschwerhörigkeit
Eine Innenohrschwerhörigkeit kann akut – etwa als Hörsturz – auftreten. Der Autor beschreibt in diesem Zusammenhang mögliche Auslöser und Therapien, wiewohl die Ursache für eine akute Hörminderung in 70 Prozent der Fälle unklar bleibt. Auch Risikofaktoren und der mögliche Einfluss von Stress werden evaluiert.
Hesse weist unter anderem darauf hin, dass plötzlich auftretende Hörverluste im Tieftonbereich häufig als Hörstürze – unter anderem auch als Morbus Meniere – diagnostiziert werden. Oftmals sei dies jedoch ein endolymphatischer Hydrops und wird im Buch ausführlich thematisch erklärt.
Schwerhörigkeit im Alter
Lärmexposition ist mehrheitlich als „der“ Faktor zur Entwicklung einer Hörminderung akzeptiert. Studien geben aber auch Hinweise, dass Rauchen und Übergewicht eine Hörminderung begünstigen, während moderater Alkoholkonsum und eine größere Körpergröße möglicherweise mit besserer Hörfähigkeit korrelieren. Im Weiteren gibt der Autor einen fundierten Überblick über alle Aspekte der Presbyakusis – wenngleich der Autor mit diesem Terminus nicht glücklich ist, da „ein Ohr zwangsläufig nicht so wie ein Auge altert“.
In Deutschland sind nur etwa 10-15 Prozent der Personen, die ein angepasstes Hörsystem benötigen, mit Hörgeräten versorgt. Auch in den USA sind die Daten laut dem Autor ähnlich. Eitelkeit und Stigmatisierung spielen bei der Unterversorgung immer noch eine wesentliche Rolle. Hesse verweist diesbezüglich auf mehrere Studien und präsentiert damit eigentlich recht interessante Zahlen zum Hörgerätemarkt.
Autoimmunerkrankungen können ebenso eine Schwerhörigkeit auslösen. Im vorliegenden Werk sind zu unterschiedlichen Syndromen und deren Prognose Hintergrundinformationen zu erfahren.
Gar nicht so selten liegt eine Hörminderung einem akuten oder einem beruflich bedingten Lärmereignis zugrunde. Nicht zu unterschätzen ist der Freizeitlärm der Jugend, bei Sportveranstaltungen und bei Orchestermusik, Risiken für Disc-Jockeys und Zahnarztmitarbeiter und die Lärmbelastung in Kindergärten und Schulen. Auch dazu liefert der Autor Erkenntnisse auf Basis von Studien. Er berichtet im Anschluss über adäquaten Gehörschutz und Lärmhygiene.
Hörstörungen können in manchen Fällen auch durch Medikamente ausgelöst werden. In einem eigenen Kapitel beschreibt der Autor Wirkstoffe und mögliche Risiken.
Mittelohr und genetisch bedingte Innenohrschwerhörigkeit
Innenohrschwerhörigkeiten, die vom Mittelohr ausgehen sind selten. Das Wissen über genetisch bedingte Innenohrschwerhörigkeiten und mögliche Behandlungsoptionen ist immer noch recht rudimentär. Der Autor beschreibt die Häufigkeit und die Behandlungsmöglichkeiten unterschiedlicher Syndrome, wie zum Beispiel das Usher-Syndrom, das CHARGE-Syndrom, das Alport-Syndrom, das Pendred-Syndrom, die lysomalen Speicherkrankheiten, das Refsum- Syndrom, die Sichelzellanämie und weitere hereditäre Syndrome.
Schwerhörigkeit im Kindesalter
Die meisten Innenohrschwerhörigkeiten im Kindesalter sind hereditär bedingt. Allerdings können unter anderem auch Röteln, Zytomegalie und Toxoplasmose der schwangeren Mutter Hörschäden des Kindes bedingen. Jedoch sind Mittelohrerkrankungen bei Kindern wesentlich häufiger. Der Autor beschreibt die häufigsten Risken für Innenohrschwerhörigkeiten, welche – wenn nicht heriditär verursacht – zumeist noch in der Gebärmutter (intrauterin) erworben wurde.
Sonstige Begünstigungen für eine erworbene Innenohrschwerhörigkeit
Bestimmte Grunderkrankungen, wie Gefäß-, Stoffwechsel- oder Tumor-Erkrankungen können das Auftreten einer Schwerhörigkeit begünstigen. Der Autor bespricht in diesem Zusammenhang Nierenfunktionsstörungen, Leberfunktionsstörungen, Schilddrüsenfunktionsstörungen, Speichererkrankungen, Diabetes mellitus, Tumorerkrankungen, vaskuläre Störungen und therapeutische Konsequenzen.
Im den beiden letzten Kapitel des Buches werden Hörminderungen aufgrund psychogener Ursachen beleuchtet und ein Ausblick auf künftige Therapieoptionen bei einer Innenohrschwerhörigkeit gegeben.
Fazit
In den meisten Fällen erfolgt ein Hörverlust aufgrund einer Schädigung des Innenohres. Das neue Expertenbuch zum Innenohr erläutert alle Formen und Entstehungsmechanismen. Das Fachbuch ist im Thieme Verlag erschienen und kostet zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Artikels 199,99 Euro.